Sigmund Gottlieb

Sigmund Gottlieb

Eigentlich kennen wir ihn alle. Schließlich sind wir mit ihm aufgewachsen, haben mit ihm gelebt, ihn täglich gesehen. Er hat uns über drei Jahrzehnte in unserem Leben begleitet und uns zur ein oder anderen Meinung verholfen. Und er selbst kennt auch alle. Natürlich persönlich: Sigmund Gottlieb. Von 1995 bis 2017 Chefredakteur des Bayerischen Fernsehens, Herr über Tagesthemen, Heute-Journal, Brennpunkt. „Erneuern oder Bewahren“ war unsere Frage an die journalistische Legende. Nicht ohne Grund. Sein neuestes Buch heißt: „So Nicht! – Klartext zur Lage der Nation.”

Wie herrlich einfach ist es doch, ein kleines wendiges Bötchen über sanfte Wellen zu manövrieren. Und wie ungemein schwer und anspruchsvoll wird es, wenn ein großes, schweres Schiff mit Hunderten von Menschen an Bord um die Weltmeere gelenkt werden soll. Es braucht einen überlegten, weitsichtigen und verlässlichen Kapitän. Einen Menschen, auf den man rund um die Uhr zählen kann. Jemanden wie Sigmund Gottlieb.

„Dann macht die Mauer wohl keinen Sinn mehr“, ist sein wohl unvergesslichster Satz, als er am 9. November 1989 um 21:45 Uhr im Heute-Journal als erster im Fernsehen die Reisefreiheit ausrief. Das wohl größte journalistische Ereignis hierzulande und Sigmund Gottlieb ist dankbar, ein Teil davon gewesen zu sein. Seit 1981 war Gottlieb für ZDF, ARD und das Bayerische Fernsehen tätig, 22 Jahre davon (1995-2017) als Chefredakteur. Er hat alle Großen getroffen, kennt Helmut Kohl, Gerhard Schröder, den Papst. Seit Februar 2017 ist er Mitglied des Universitätsrates der Universität Passau, erst vor kurzem wurde er dort zum Ehrensenator ernannt, Stoiber überreichte im 2005 den Bayerischen Verdienstorden, 2008 erhielt er die Bayerische Europa-Medaille. Es ist also schon etwas ganz Besonderes, den so bedeutenden "Journalisten" (wie er sich selbst bezeichnet) zu treffen. Wir sprachen mit dem langjährigen Erfolgsgaranten, einem charismatischen, vor geballtem Wissen strotzenden und dennoch beeindruckend in sich ruhenden Sigmund Gottlieb über „Repositioning“. Mit seinem Buch "So Nicht!" hat er schließlich den Finger in die Wunde gelegt und aufgezeigt, was hierzulande für ihn nicht in Ordnung ist, was nicht läuft oder sich zum Schlechten verändert hat, vernachlässigt wird und immer mehr verkommt.

Hier also die Frage "Bewahren oder Erneuern?", lieber Herr Gottlieb. Was sagen Sie?

"Bewahren oder Erneuern?", ist im Grunde ja die Frage nach dem Fortschritt oder dem Konservativen, was ja kein Widerspruch ist. Gerade in Deutschland tun wir uns jedoch seit geraumer Zeit schwer, das Konservative mit dem nötigen Wert zu versehen. Konservativ ist immer in Verruf, rückschrittlich zu sein und nicht auf das Neue einzugehen. Dazu hat Franz Josef Strauß einmal einen wichtigen Satz formuliert: „Konservativ zu sein, ist an der Spitze des Fortschritts zu marschieren.“ Und auch konservative Philosophen sagen, es müsse sich nicht der Konservative für das rechtfertigen, was sich bereits bewährt habe. Rechtfertigen muss sich vielmehr das Fortschrittliche, das Neue, das sich noch nicht bewährt hat. 

Joachim Gauck hat zum Konservativen gesagt, dass man auf der einen Seite des politischen Spektrums eine ganz klare Trennung zwischen links und extrem links vornehme, rechts von der Mitte jedoch vieles unzulässig vermische – konservativ ist gleich rechts und von da ist es nicht mehr weit an den rechtsextremen Rand. Damit wollen dann natürlich nur wenige etwas zu tun haben. Das ist der Grund, warum konservativ sein in Deutschland so schwierig geworden ist. Dabei ist eine solche Haltung gerade jetzt, aus meiner Sicht, so wichtig wie noch nie. Konservativ und/oder fortschrittlich sein – beides muss doch mit gleicher geistiger Distanz betrachtet werden, sonst wäre es verlogen. 

Es heißt auch: Ohne Herkunft keine Zukunft.

In meinem neuesten Buch "So Nicht!" schreibe ich, dass wir in den letzten Jahrzehnten unser Geschichtsbewusstsein völlig verloren haben. Weil uns Geschichte selbst nicht mehr interessiert oder weil eine spezielle Klasse von Politikern uns bestimmte historische Ereignisse vorenthalten möchte. Da denke ich an den Mauerbau und die DDR-Diktatur mit den vielen Toten. Heute ist es ja schon etwas Besonderes, wenn man mit einer bescheidenen Erinnerungsfeier in Berlin an diese Ereignisse erinnert. Auch die Wiedervereinigung ist in Vergessenheit geraten. Ein Jahrhundert-Ereignis, das kein Mensch mehr in der Politik zu einem großen Thema macht, ein fehlendes Geschichtsbewusstsein, das bei bestimmten politischen Themen gefördert wird. So leben wir in einem Land, das kein historisches Fundament mehr hat. Wir konnten von Glück reden, dass wir Helmut Kohl hatten, der Historiker war, und der viele Dinge aus dieser Perspektive betrachtet hat. Ich bin überzeugt, dass die Wiedervereinigung Deutschlands und die Vereinigung Europas ohne den Kanzler der Einheit nicht so gut und gewaltfrei gelungen wäre, wie wir dies erleben durften.

Glauben Sie, das Ganze ist auch ein Generationsproblem? 

Es scheint bisweilen so, als hätten junge Menschen mit Geschichte nicht mehr wirklich viel am Hut und die deutsche Geschichte sei durch eine amerikanische überlagert.

Ja, die deutsche Geschichte wird Stück für Stück abgebaut. Wenn ich jetzt lese, dass man bei den Lehrplänen überlegt, ob man überhaupt noch Goethe braucht oder Schiller, so ist das ein Skandal. Denn wenn wir nicht wissen, woher wir kommen, dann wissen wir auch nicht, wohin wir gehen. Ich bin selbst an der Universität in Passau im Universitäts-Rat und kann dort sehen, dass das Interesse an Geisteswissenschaften größer sein könnte. Auf der einen Seite kann man verstehen, dass ein junger, ambitionierter und begabter Mensch natürlich zusieht, wo er seine Neigungen am besten umsetzen kann und wo sich ihm die besten Berufschancen eröffnen. So geraten die MINT-Fächer bei vielen jungen Leuten schnell in den Fokus. Dies ist wichtig, weil wir in vielen technologischen Zukunftsfeldern längst den Anschluss verloren haben. Ich würde mir wünschen, dass mehr Studenten Technisch-Naturwissenschaftliches und Geisteswissenschaftliches miteinander verbinden würden.

Wir nähren uns schon sehr lange über eine Fremdkultur, sprich Amerika, und hängen da mit der Nabelschnur dran.

Das ist natürlich sehr bequem. Auf der anderen Seite erleben wir in der Ukraine-Politik, wie schwer es ist, eine eigene politische Linie zu entwickeln. Der Standardsatz deutscher Politik in diesen Tagen heisst doch: "Wir dürfen das nicht alleine machen." Zwar hat Helmut Kohl die Wiedervereinigung auch nicht alleine, sondern gemeinsam mit den Europäern durchgesetzt und nur deshalb war sie erfolgreich. Unsere Nachbarn hatten das Gefühl, von einem größeren, stärkeren Deutschland ginge keine Bedrohung aus. Momentan ist die deutsche Aussenpolitik, vor allem die Haltung des Kanzlers aber nur von dem Gedanken getragen: "Bitte übernehmen wir nicht so viel eigene Verantwortung, das könnte uns schaden, auch in der direkten Auseinandersetzung mit Russland." Die Deutschen haben verlernt Verantwortung zu übernehmen. Das war bei Merkel nicht anders und Scholz hat bei Merkel gelernt. 

Das Land begibt sich in Abhängigkeit von Amerika aber die Menschen in Deutschland begeben sich auch gerne in Abhängigkeit und zwar vom eigenen Staat. Der Staat soll alles richten. So sehr ich die aktuelle Entwicklung mit Sorge betrachte, Energiekosten, Inflationskosten, sehe ich noch eine weitere Gefahr. Wenn man der Bevölkerung jeden Tag in Aussicht stellt: "Was auch immer notwendig ist, wir machen das für euch!“, dann schafft das natürlich eine Mentalität, die in die Unselbstständigkeit führt. Es wird eine "Der Staat wird uns schon helfen, er wird es schon richten"-Mentalität gefördert. Wir bewegen uns in diesen Monaten in Richtung Betreuungsstaat. Niemand fragt mehr nach der Bezahlbarkeit. Natürlich ist klar, wer das bezahlen soll – es sind die künftigen Generationen. Ein riesiges Problem, das unsere Politiker – wer könnte es ihnen verdenken – totschweigen. Schliesslich sind sie bereits damit überfordert, die Probleme eines Krisenmarathons zu managen.

Das klingt jetzt wie ein genereller Angriff auf Politiker. Doch ich muss sagen, dass ich mein ganzes journalistisches Leben niemals Politiker Bashing betrieben habe. Denn Politik ist ein harter Job und Politiker sind in der Regel arm dran. Sie werden überall vorgeführt und sind für alles verantwortlich. Aber was wir jetzt seit zwei Jahren erleben – Corona, Hochwasser, Ukraine-Krieg, Energiekrise – zeigt, dass deutsche Politik krisenuntauglich ist. Ein Mann wie Helmut Schmidt hat Krise gekonnt. Vorschriften oder Bürokratie haben ihn nicht interessiert, er hat Verantwortung übernommen. Persönlichkeiten dieses Formats vermissen wir heute in der Politik. Man schafft es nicht, Lösungen herbeizuführen. Politiker haben noch immer nicht begriffen, dass ihnen in vielen Bereichen die Kompetenz fehlt. Sie müssen sich endlich des Sachverstands von Experten bedienen – wie in der Coronakrise. 

In Ihrem Buch beleuchten Sie auch das Verhalten von Politikern aufgrund der Angst vor Shitstorm. Sind Politiker derartige Angsthasen?

Wir haben in Berlin und in den Landesparlamenten eine Generation von Politikern, die trauen sich keinen klaren deutschen Hauptsatz mehr formulieren, weil sie Angst haben, von einem Shitstorm durch die Mangel gedreht zu werden und dass das ihrer politischen Karriere schaden könnte. Ich finde, das ist eine ziemlich erbärmliche Haltung.

Man hofft also jetzt, dass sich alles von alleine regelt, damit das eigene Ansehen keinen Kratzer bekommt?

Ja, man hofft, dass alles vorbeigeht und die ältere Generation der Politiker hofft, dass sie das alles nicht mehr erleben muss und alles über sie hinweggeht. Das trifft nicht auf alle zu, aber auf manche schon und hängt damit zusammen, dass viele vor ihrer politischen Tätigkeit keinen Beruf ausgeübt haben. Sie sind demnach abhängig vom politischen Mandat. Für sie ist es Existenzgrundlage. Deshalb werden sie politischen Entscheidungen zustimmen, auch wenn sie eigentlich dagegen sind. Sie unterwerfen sich dem Fraktionszwang. Peter Gauweiler war stets ein leuchtendes Gegenbeispiel. Sein Leben lang finanziell unabhängig, hat er sich diese Unabhängigkeit auch in der Politik bewahrt. Solche Leute fehlen.

Sind alle Politiker heute verweichlicht?

Nicht alle, aber viele schon. Politiker früherer Jahrzehnte bis in die achtziger Jahre hinein waren Leute, die Existenzerfahrungen gemacht hatten, Grenzerfahrungen. Bei vielen von ihnen ging es im Zweiten Weltkrieg um Leben und Tod, um Not und Armut.Ihnen war wichtig, eine Demokratie im Frieden aufzubauen. Das ist danach anders geworden. Viele junge Leute sahen in der Politik eine Möglichkeit für Broterwerb und Aufstieg. Sie bekamen so das Gefühl, es durch die Politik geschafft zu haben. Ein Verlust dieser Insignien der Macht empfinden sie als fatal. Deshalb wird geklammert und deshalb wird manchmal auch falscher Politik zugestimmt.

Ich habe vier Kapitel im Buch formuliert: Der verirrte Geist, das vernachlässigte Land, die unterschätzte Freiheit und die bedrohte Demokratie. Bei dem verirrten Geist geht es auch um Bildung und vernachlässigte Sprache, auch dass unsere Abgeordneten nicht mehr sprach- und sprechfähig sind. Bis auf Merz, Lindner oder Gysi haben wir doch keine Rhetoriker mehr, die Menschen mitreißen können und eine freie Rede halten. Im alten Rom war das die Pflicht. Wenn sie dazu in der Lage wären, sollten die Parlamentarier voller Leidenschaft über Bildung streiten und darüber, warum der Bildungsetat unseres Landes nur einen Bruchteil des Sozialetats ausmacht – und das, obwohl Deutschland über keine Kupferminen und Ölquellen verfügt, sondern nur über den Rohstoff Geist.

Aber wir reden uns alles schön. Trauen uns nicht hinzuschauen. Wir sind die Republik der Euphemisten, bei uns ist nichts so schlimm, wie es aussieht, und alles wird immer gut. Das ist die Angst des Abgeordneten vor dem klaren Wort. Dazu gesellen sich Tabuisierer und Gesinnungsethiker ohne Verantwortung.

In den letzten Monaten kamen immer mehr Menschen zu mir und meinten, dass es nicht gut laufen würde und keiner darüber reden würde und, dass sie sich nicht mehr trauen würden, zu bestimmten Themen ihre Meinung offen zu äussern, nur noch im Kreis der Familie oder von Freunden. Themen wie Patriotismus, Flüchtlinge, Islam seien Verbotszonen. Man könne diese Themen schon ansprechen, aber nur so, wie es die Gesinnungsethiker und Moralisten vorgeben. Wenn man sich nicht in diesem Mainstream bewegt, hat man es auch als Journalist nicht leicht. Es ist also dringend erforderlich dass wir Debatten führen. Man muss die Meinung des anderen nicht teilen, doch man sollte sie tolerieren. Das haben wir verlernt.

Ist das Buch eine Art Erziehungsmaßnahme für beide, Volk und Politik?

Nein. Das Buch soll eine Diagnose sein, eine Beobachtung, wie Menschen Deutschland heute sehen. Hierzu habe ich mit sehr vielen Frauen und Männern gesprochen und mir auf dieser Grundlage mein Bild gemacht. Das führt zu dem Resultat, dass wir in Deutschland immer mehr vernachlässigen und in unserer Wohlstandshängematte schläfrig schaukeln und sagen:„Es geht doch noch.“

Das Buch bietet keine Lösungen?

Es ist ein Buch der Diagnose und nicht der Therapie. Wenn ich von der dringend notwendigen Sorgfalts-Offensive und einem neuen Willen zur Höchstleistung spreche, dann zeigt das, wo ich die Lösungsansätze sehe. Aber die Lösung ist nicht meine Aufgabe, ich bin kein Reparaturbetriebsleiter für die Fehler der Verantwortlichen in den unterschiedlichen Bereichen, wo sie an der Spitze stehen. Im letzten Kapitel meines Buches habe ich unter der Überschrift "Was Roman Herzog uns heute sagen würde" noch einmal auf die berühmte Herzog-Rede von 1997 im Hotel Adlon, die sogenannte Ruckrede, Bezug genommen und festgestellt, dass seitdem nur wenig passiert ist und der Reformstau noch so gross ist wie damals. Es ist auch an der Zeit, sich Gedanken darüber zu machen, wie die Wählerinnen und Wähler zwischen den Wahlterminen den Politikern signalisieren, was ihnen nicht passt und wo sie dringend Handlungsbedarf sehen. Dazu müssten sie sich engagieren und ihre schläfrige Gleichgültigkeit ablegen, mit der sie nach wie vor ihr Land betrachten.

Lieber Prof. Gottlieb, herzlichen Dank für das aufschlussreiche Interview.

Autorin und Interview: Elke Bauer

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