Kennen Sie Jo Kern? Vom Bild her bestimmt, sie hat als Schauspielerin gefühlt mehr Rollen gespielt als ein Bäcker Brötchen gebacken. Aber kennen Sie sie wirklich? Nun, andersherum: sie würde Sie sofort kennen, wenn sie Ihnen begegnen würde. Nicht nur, weil sie als Schauspielerin jahrzehntelang Menschen und Figuren zum Leben erweckt hat – sondern weil sie heute Gesichter liest. Und das nicht im Sinne von: „Oh, der schaut müde.“ Sondern so tief, dass man plötzlich selbst still wird. Und sich fragt: Was steht eigentlich in meinem Gesicht geschrieben?
Jo Kern kennt die große Bühne genauso gut wie das leise Zögern in einem Blick. Sie war im „Tatort“, auf dem „Traumschiff“, im Kinosaal, im Synchronstudio. Und heute bringt sie Menschen bei, ihr eigenes Spiegelbild wieder liebenswerter zu finden – ohne Filter, ohne Urteil, aber mit ganz viel Wissen, Herz und Humor.
Im Gespräch mit ihr merkt man schnell: liebenswert zu sein, ist kein Zustand, den man sich verdienen muss. Es ist ein Raum, in dem wir uns endlich wieder begegnen dürfen. In diesem Interview geht’s ums Spiegelbild, ums Menschsein, um Mimik als Muskeltraining und darum, warum wir uns bitte sofort ein bisschen liebenswerter finden sollten. Jo würde sagen: „Da geht noch was – und zwar im besten Sinne!“
Liebe Jo, wenn wir sagen, jemand sei liebenswert, wie zeigt sich das Deiner Erfahrung nach im Gesicht – sind es bestimmte Züge, eine Ausstrahlung oder etwas, das man nur im „Dazwischen“ spürt?
Liebe Elke, diese Frage ist wunderbar vielschichtig. Grundsätzlich möchte ich gleich hier erwähnen, dass ich glaube, dass eine der wichtigsten und elementarsten „Aufgaben“ im Leben ist, dass wir – endlich (wieder) verstehen, fühlen und leben, dass wir alle liebenswert sind – genauso, wie wir sind! Und natürlich ist die größte Hürde, dass wir alle so verdammt gut darin sind uns selbst zu kritisieren. Selbst wenn wir ein gutes Haar an uns lassen, gibt es doch so viel mehr, wo wir ständig denken: „WENN ich das geschafft, erreicht, gemeistert habe – ja, DANN, dann bin ich liebenswert, schön, erfolgreich, respektiert, etcetera. Um auf das Gesicht zu kommen: ein Mensch, der sich selbst als liebenswert empfindet – was ja immer nur mit unserer eigenen Selbstbetrachtung zu tun hat –, der hat entspanntere, weichere Gesichtszüge als jemand, der in ständiger Selbstoptimierung und Eigenkritik unterwegs ist. Und das ist auch das Interessante: Wir Menschen nehmen einfach – und sei es nur unbewusst – sehr, sehr viel wahr, auch wenn wir es gar nicht in Worte fassen können. So kann man durchaus „spüren“, ob jemand eine recht gute Selbstliebe hat, sich selbst gegenüber liebevoll gestimmt ist, oder eben nicht.
Das bedeutet unser „Liebenswert-sein“ ist sowohl bewusst sichtbar als auch eine unterschwellige, fast unsichtbare Botschaft, die nur auf intuitiver Ebene wahrgenommen wird?
Die Bewusstheit „Ich bin liebenswert“, ist auf jeden Fall im Gesicht sichtbar, ebenso wie ständige Eigenkritik und im Extremfall Härte zu sich selbst klar aus den Merkmalen im Gesicht abzulesen sind. Nicht nur intuitiv.
Gesichter sind ständig in Bewegung – wie kann die Dynamik von Mimik und Ausdruck den Charakter offenbaren oder auch verbergen?
Mimik ist natürlich etwas, das im Augenblick stattfindet. Das Spannende gerade beim Face Reading ist jedoch, dass sämtliche Gefühle, Verhaltensweisen, Reaktionsweisen – also Dinge, die wir wiederholt denken und damit auch fühlen, zwangsläufig unser Erleben steuern und damit logischerweise auch unser Handeln beeinflussen. Und all das zeichnet sich in unserem Gesicht ab.
Das kann man sich gut durch ein Beispiel unserer Muskeln erklären: Wenn ich meinen Bizeps regelmässig trainiere, wird er mit der Zeit stärker und das wird sichtbar. Im Gesicht haben wir über 50 Muskeln, allein bei einem Lächeln sind 17 Muskeln beteiligt. Aber jeder Gedanke, jedes Gefühl – auch wenn wir nicht in Kontakt mit anderen sind, sondern allein zu Hause auf dem Sofa sitzen – beeinflussen unsere Gesichtsmimik. Und je öfter ich etwas Bestimmtes denke, fühle, erlebe und damit bestimmte Reaktions- und Verhaltensweisen an den Tag lege, desto mehr wird sich das ganz klar im Gesicht zeigen. Das heißt: Mir als Facereaderin offenbart der Mensch tatsächlich sein Hier und Jetzt, und kann es gar nicht verbergen.
Glaubst Du, dass wir alle die Fähigkeit haben, hinter die Oberfläche zu blicken und das Unsichtbare zu entdecken – das, was jenseits von Worten und Logik liegt?
Oh ja, ich glaube, wir alle haben diese Fähigkeit. Sie wird uns leider sehr früh regelrecht abtrainiert, je nachdem, in welchem Umfeld wir heranwachsen. Auch dürfen wir berücksichtigen, dass unsere Intuition, dieses gute, klare Bauchgefühl, natürlich auch durch individuelle Erfahrungen verfremdet, beziehungsweise überlagert wird. Wir alle haben bestimmte Gesichtszüge, nicht nur Mimik!, mit bestimmten Erfahrungen abgespeichert. Manche bewusst, manche unbewusst als implizite Erinnerungen. Dadurch verliert sich das neutrale Bauchgefühl und wir sind eben überhaupt nicht mehr offen oder unvoreingenommen.
Liebenswert ist auch das Unbequeme, das Widersprüchliche. Wie lernt man Gesichter zu „lesen“ ohne zu urteilen?
Danke für diese Frage, sie gibt mir die Möglichkeit zu sensibilisieren: wir urteilen und verurteilen die ganze Zeit! Wir entscheiden innerhalb von Millisekunden: sympathisch – unsympathisch, hübsch – hässlich. Mit der Kunst, Gesichter zu lesen, passiert genau das Gegenteil. Das ist einer der schönsten Aspekte, wenn man lernt in Gesichtern zu lesen: wir fangen endlich wieder an, viel offener und neugieriger hinzuschauen, weil wir nicht mehr automatisieren und unseren impliziten Erfahrungen „ausgeliefert“ sind. Es ist wirklich ein richtiges, neues, liebevolles „Sehen-lernen“. Wir betrachten unvoreingenommen Formen und Merkmale und sie alle verraten uns Schönes, Interessantes und Wunderbares über unser Gegenüber und auch über uns selbst. Sämtliche meiner Teilnehmer an meinen Kursen sagen, dass sie ihre ganzen Vorurteile und Urteile völlig auflösen konnten.
Kann man bestimmte Eigenschaften in einem Gesicht bewusst entwickeln oder trainieren – zum Beispiel durch mehr Achtsamkeit, Authentizität oder Selbstakzeptanz?
Und auch diese Frage ist wunderbar. Und ich beantworte sie von Herzen gern mit einem klaren: „JA!“ Ich bin seit über zwei Jahrzehnten in der Persönlichkeitsentwicklung tätig und der klassische Weg, gewünschte Veränderungen zu erzielen, führt meist über mentale Strategien, emotionale Prozesse oder neue Handlungsmuster. Facereading bietet hier eine kraftvolle Abkürzung. Denn wenn ich weiß, welche Gesichtsareale mit bestimmten Denk- oder Verhaltensweisen korrespondieren, kann ich genau dort ansetzen. Über bewusste mimische Präsenz, gezielte Aktivierung und Achtsamkeit für bestimmte Ausdruckszonen kann ich innere Prozesse nicht nur begleiten, sondern die gewünschte Veränderung im Innen extrem beschleunigen.
Wir sagen nicht umsonst: „Außen – Innen. Innen – Außen.“ Jede nachhaltige Veränderung im Außen spiegelt sich im Inneren, und umgekehrt. Psychophysiognomisches Wissen macht diese Wechselwirkung greifbar und eröffnet neue Möglichkeiten der Selbstentwicklung – jenseits von reiner Kopfarbeit. Ein konkretes Beispiel:
Eine Klientin wollte mehr Durchsetzungskraft entwickeln und sich im Berufsalltag klarer abgrenzen. Ihr Gesicht zeigte ein eher fliehendes Kinn und eine weiche Kieferpartie. Beides Merkmale, die auf Harmoniebestreben und Konfliktvermeidung hinweisen. Sie hat dann dieser Areale in ihrem Alltag bewusst aktiviert: durch mimische Präsenz, die Übung das Kinn richtiggehend "nach vorne zu schieben“ und ein Anspannen der Kiefer-Partie. Allein durch die veränderte Gesichtsmimik geben wir unseren Zellen, dem Unbewusstsein die klare Message: „Hey, jetzt geht es mehr um mich! Ich stehe mehr zu meinen Bedürfnissen, Meinungen und Vorhaben.“ Nach kürzester Zeit ist dann nicht nur ein verändertes Auftreten spürbar, auch das Gesicht gewinnt an Ausdruck und Präsenz. So entsteht schnelle und nachhaltige Entwicklung auf allen Ebenen.
In der Begegnung mit anderen ist die Spiegelung im Gesicht oft der erste Raum für Resonanz. Wie wichtig ist diese Resonanz für das Erleben des Gegenübers?
Hier sind wir natürlich wieder bei Vorurteilen: Wenn wir unbewusst sind, stecken wir Menschen in Schubladen. Ein Beispiel: Jemand, der eine eingefallene, schmale Wangenpartie hat und ausgeprägte Jochbeine, der ist einfach von Natur aus nicht so offen. Er ist eher beobachtend. Und genau so jemand wird dann schnell, unbewusst, von allen, die das Wissen über Face Reading nicht haben, als arrogant oder abweisend eingeschätzt. Oder man glaubt sogar: „Der oder die mag mich nicht.“ Dabei ist das völlig falsch. Das ist einfach nur ein Mensch, der zurückhaltend ist und erst dann aufmacht, wenn er sich wohl oder sicher fühlt. Insofern ist es immer eine Wechselwirkung von unbewussten Signalen, die wir aufnehmen und die wir dann einsortieren. Und dieses Einsortieren ist eben nicht immer „richtig“ – ausser man ist facereader.
Wie gehst Du im Coaching mit Menschen um, die sich selbst als „nicht liebenswert“ empfinden? Wie können sie durch die Wahrnehmung ihres eigenen Gesichts eine neue Beziehung zu sich selbst finden?
Selbstliebe ist einer meiner Kernpfeiler. Und es geht vor allem darum, dass wir uns mit allen Anteilen anfangen, selbst wahrzunehmen, zu akzeptieren und zu lieben. Und eben nicht, etwas „weghaben“ zu wollen. Denn durch das Annehmen, durch die wundervolle Unperfektion – denn Perfektion gibt es ja gar nicht! – und das Bewusstsein darüber, dass ich mit all meinen Facetten liebenswert bin, entsteht eine Ruhe und eine Selbstakzeptanz. Genauso ist es mit unserem Äußeren. Nicht nur mit dem Gesicht – auch mit unseren Körpern oder unseren Kilos, oder allem was wir im Aussen noch glauben „bewerkstelligen zu müssen“, damit wir endlich liebenswert sind. Wir sind so gut darin, uns selbst zu kritisieren und immer den Fokus auf all das zu richten, was vermeintlich noch nicht „stimmt“, noch nicht gut genug ist, dass wir innerlich ständig im Mangel sind. Wir haben von etwas zu wenig und von anderem zu viel. Und all das "wollen wir weg haben". Und wie wir alle wissen: Wenn wir etwas weg haben wollen, wird es – leider – nicht kleiner, sondern eher größer. Es wartet dann quasi nur im Rückhalt auf die kleinste Gelegenheit, um uns bei jeder möglichen Gelegenheit erneut daran zu erinnern, dass wir nicht liebenswert sind, nicht gut genug, so wie wir sind.
Und um wieder zum Thema facereading zurückzukehren: Was ich tatsächlich zum Beispiel sehr oft erlebt habe: Coaches eröffneten mir an einem Punkt, dass sie sich überlegt hatten, eine „Schönheits-OP“ machen zu lassen und sie dann a) durch den Coachingprozess und b) durch das Wissen, wofür ihre zum Beispiel vermeintlich, "zu grosse Nase" tatsächlich steht, um kein Geld der Welt mehr eine Veränderung vorgenommen hätten. Ich bekomme heute noch Nachrichten, nach 10, 15 Jahren, in denen mir Menschen schreiben: „Ich bin dir so dankbar – ich liebe meine Nase!“ (oder was auch immer es war). Die Schönheit liegt so oft im Annehmen, im Bewusstsein, dass die Natur sich etwas dabei gedacht hat. Im Bewusstsein, dass – was auch immer – zu mir gehört, ein Teil von mir ist, den ich liebevoll annehmen kann. Erst dann kann ich, viel entspannter und liebevoll, anfangen, Dinge tatsächlich nachhaltig zu verändern, die mir wirklich am Herzen liegen.
Welche Rolle spielt Stille und Zwischenraum in der Kommunikation mit Gesichtern? Gibt es Momente, in denen genau das Nicht-Gesagte die Beziehung ausmacht?
Ich liebe Deine Fragen. Ja, ich glaube, dass grundsätzlich Stille und Wahrnehmung ein echter Mehrwert sind. Und dass das in der heutigen Zeit, wo alles immer schneller, höher, weiter ist, ohnehin immer mehr viel zu kurz kommt. Jeder Moment, in dem ich einfach still den anderen wahrnehme, und sei es nur, dass man sich gegenseitig in die Augen schaut. Was ich übrigens in jeder Paarcoaching-Session mit einbinde, egal ob die beiden zusammenbleiben wollen oder ich nur den Scheidungsprozess begleite: Sich einfach mal zwei, drei Minuten gegenseitig in die Augen schauen – nicht reden. So entsteht immer, von einem Moment auf den anderen, wahrhaftige Begegnung, jenseits von Vorurteilen. Oft empfinden die Menschen in diesem Moment Gefühle, die sie teils Jahre, ja, Jahrzehnte nicht mehr zugelassen haben. Ein Raum, in dem wir zulassen, uns wirklich zu sehen. Das ist eine wunderbare Wechselwirkung, denn es beinhaltet auch das Zulassen, gesehen zu werden.
Und für diese heilenden Momente brauche ich noch nicht mal die Kunst des Gesichterlesens. Weil ich dann über diesen ersten Eindruck hinaus eine Begegnung zulasse, und in dem Moment, wo wir Begegnung zulassen, entsteht Schönheit und Liebe. Es gibt ja diesen wunderbaren Satz: „Alles was wir mit den Augen der Liebe betrachten ist schön.“ (Zitat: Christian Morgenstern) Und es funktioniert auch andersrum: Ich kann auch etwas erst offen betrachten und durch dieses Zulassen entsteht ein Gefühl von Annahme, Sehen, Schönheit und dann, sehr oft und leise, auch das Gefühl von Liebe und Verbundenheit.
Ich kann das übrigens auch jedem mit sich selbst im Spiegel empfehlen. Sich mal selbst liebevoll zwei, drei Minuten im Spiegel in die Augen schauen. Probieren Sie es aus! Es lohnt sich!